Wiener Heurigen-Flair sucht man hier vergeblich. Nur eine halbe Metro-Stunde vom Stephansplatz entfernt hat die UNO-City im Vorort Kaisermühlen eher Ähnlichkeit mit Klein-Manhattan. In der 24. Etage eines der himmelragenden Wolkenkratzer residiert seit drei Jahren Dr. Gerd Müller (69). Wie sein Namensvetter, der einstige „Bomber der Nation“, hat er seine Wurzeln in Bayrisch-Schwaben. In seinem Fach jeder mit internationalem Bekanntheitsgrad.
Nach acht Jahren als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in zwei Legislaturperioden von Kanzlerin Merkel kümmert sich der CSU-Spitzenpolitiker als Generaldirektor der UNO-Organisation für Industrielle Entwicklung (UNIDO).
Erster Europäer in diesem Amt
Gerd Müller, der als erster Europäer an der Spitze dieser Organisation steht, verdankt seine Berufung dem Votum von Delegierten aus 170 Mitgliedsstaaten. Eine wichtige Rolle spielten bei der Wahl Müllers Leistungen als deutscher Entwicklungs-Minister. Sein Jahres-Etat belief sich auf 12,4 Milliarden Euro. Ein Betrag, mit dem vor allem in den afrikanischen Ländern viele Projekte angestoßen wurden, die Gerd Müller jetzt als UNO-Generaldirektor weiter entwickelt. „80 Prozent der Weltbevölkerung leben in Entwicklungs- und Schwellenländern. Mein Ziel ist es, dort eine Welt ohne Hunger und Arbeitsplätze für Millionen junger Menschen zu schaffen“.
Wie er diese ambitionierte Aufgabe schultert, erklärt der Landwirtssohn und promovierte Politikwissenschaftler aus Durach bei Kempten so: „Es geht darum, mit einer nachhaltigen und umweltgerechten Infrastruktur Unterstützung zu leisten. Der persönliche Augenschein ist dabei nicht nur bei Fragen der Agrokultur besonders wichtig“, ergänzt der 69-Jährige. Bislang hat Müller 170 Länder bereist, davon 45 in Afrika. Während dieser Artikel im AUGSBURG JOURNAL erscheint, waltet der Generaldirektor als Unterzeichner eines Partnerschaftsabkommens in Nigeria.
Allgäuer Stabilität, schwäbische Spontanität, tausende Flugkilometer, die Gesundheit in Afrika von Malaria, in Südamerika von „Montezumas Rache“ bedroht, wochenlang fern der Familie – das muss man über die Jahre aushalten können. „Das ging natürlich nicht ohne den Rückhalt durch meine Frau und unsere zwei Kinder“, betont der Politiker. Juristin Gertie Müller-Hoorens hat ihren Mann übrigens auch manchmal auf eine Fernreise begleitet – auf eigene Kosten, versteht sich.
Gerd Müllers Allgäuer Stabilität hat ihm sowohl bei der Kanzlerin als auch bei seinen Mitarbeitern Sympathie und großen Respekt eingebracht. So ist zum Beispiel eine Geschichte verbürgt, wie er auf staubiger Straße in Burkina Faso den Autokonvoi anhalten ließ. Es ging um das Gespräch mit einem Kleinbauern und die Milchleistung seiner einzigen Kuh. Oder die Schockstarre seiner Personenschützer, als er sich unbegleitet im Elendsviertel in Sao Paolo vom Fortschritt eines Hilfsprojektes überzeugen wollte.
Wo man hinschaut, China ist schon da
Die von Müller geleitete UNIDO verfügt über 47 Niederlassungen, 650 feste und rund 1800 projektbezogene Mitarbeiter. „Mein Leitspruch ist ‚Progress by Innovation’. Wir sind unter dem Dach der UN die Plattform für nachhaltige Technologie und Knowledge im Rahmen der Entwicklungs-Zusammenarbeit. 60 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Entwicklungsländern. In 30 Jahren wird jeder zweite lebende Mensch afrikanische oder asiatische Wurzeln haben.“ Die Folgen dieser Dynamik würden, wie Gerd Müller bedauert, in Europa noch weitgehend ignoriert. Überall in Afrika gebe es rasantes, vor allem von China stark unterstütztes Wachstum. „Da geschieht was, das wir gar nicht wahrnehmen. Jeden Monat wächst auf diesem Kontinent die komplette Infrastruktur mit Wasser, Abwasser, Straßen, Eisenbahnen, Schulen, Krankenhäusern auf einer Fläche mit der Größe von New York.“ Und da meine Frage: „Wo ist hier Deutschland, wo ist Europa in der Zusammenarbeit?“
Als absolut notwendig bezeichnet Müller die humanitäre Hilfe. „Wer hier für Mittelkürzungen ist, hat noch kein Flüchtlingslager gesehen. Das meint aber auch Bekämpfung der Korruption. Mit Ländern, die da nicht mitmachen, gibt es keine Zusammenarbeit mehr.“ Gerd Müller ist überzeugt: „Es flieht kein Afrikaner nach Deutschland, wenn er zuhause eine Chance auf die Zukunft hat“.
Klimaschutz nirgendwo so effektiv
Und was den Klimaschutz betrifft: Eine Milliarde Euro hier in erneuerbare Energie, in Wasserstoff investiert, bringt hundertfach mehr CO2-Reduktion, als wenn wir das in Deutschland für Wärmedämmung und Wärmepumpen finanzieren. Es ist schäbig, wenn man weiß, was zu tun ist, es aber nicht macht. So lautet die aktuelle Beschreibung für die Haltung der Weltgemeinschaft.“
Schon als Minister für Entwicklungshilfe hat es Gerd Müller seinen CSU-Parteifreunden nicht immer leicht gemacht. So brachte er einmal mit SPD-Arbeitsminister Heil das Lieferketten-Gesetz für faire Handelsbeziehungen auf den Weg. Herkunft und Entstehung von Import-Waren müssen seither vom Handel dokumentiert werden, worüber auch die IHK-Schwaben Kritik äußerte.
Ein Statement, das wir von Gerd Müller beim Abschied keinesfalls vergessen sollten: „Ich bin zwar UN-Repräsentant und werde bei meiner Tätigkeit als Europäer wahrgenommen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht gerne interessierten Firmen aus meiner Heimat helfe, um Türen zu öffnen. Ein Brief oder eine Mail genügen.“

Gerd Müller als willkommener Besuch bei einer UN-Hilfsaktion in Kibera/Nairobi im afrikanischen Staat Kenia.
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