Bildlich gesprochen: Fast eine ganze Kindergartengruppe – 18 Kleinkinder und zusätzlich 223 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 18 Jahren wurden im vergangenen Jahr Opfer von Sexualstraftaten. Insgesamt wurden 686 Betroffene in unserer Region registriert. Das Polizeipräsidium Schwaben Nord präsentiert eine schockierende Statistik, die zeigt, dass Kinder und Jugendliche zunehmend missbraucht werden.
„Allgemein für den Bereich der Sexualstraftaten gehen wir von einer durchaus relevanten Dunkelziffer aus“, erklärt Polizeioberkommissarin Johanna Kruger. In den letzten fünf Jahren verzeichnen Augsburg und die umliegenden Landkreise einen deutlichen Anstieg der Sexualdelikte. Neu veröffentlichte Häufigkeitszahlen (Fälle pro 100.000 Einwohner) zeigen, dass die Stadt Augsburg im Jahr 2020 bereits 308 Fälle registrierte, bis 2024 stieg diese Zahl auf 424. Im Landkreis Augsburg schoss der Wert von 100 auf 222, in Dillingen von 65 auf 197, in Donau-Ries von 95 auf 180 und in Aichach-Friedberg von 51 auf 107.
Laut Leitendem Kriminaldirektor Mario Huber macht etwas über die Hälfte der Fälle eine stets wachsende Zahl an Verdachtsmeldungen aus, die das US-amerikanische „National Center for Missing and Exploited Children“ an die Beamten weitergibt. Diese Hinweise betreffen die Verbreitung sexualisierter Darstellungen von Kindern und Jugendlichen im Internet und erreichen die Polizei über das Bundes- und Landeskriminalamt. Die übrigen Fälle verteilen sich auf weitere Sexualdelikte wie Vergewaltigung, sexuelle Belästigung und Nötigung.
Eine beunruhigende Tendenz: Immer mehr Minderjährige sind selbst Täter. Im Jahr 2024 wurden insgesamt 850 Tatverdächtige im Zusammenhang mit Sexualstraftaten erfasst, so viele wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren. Besonders auffällig ist, dass 262 von ihnen unter 18 Jahre alt waren, 84 sogar jünger als 14 Jahre. Im Jahr 2015 lag die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen bei lediglich 54.
Soziale Medien als Risikofaktor
„Eine mögliche Ursache dieser Entwicklung kann in der Nutzung der sozialen Medien gesehen werden“, erläutert Kruger. „Die Kinder- und Jugendlichen sind dort oft in vielen Gruppen und haben eine unübersichtliche Anzahl von Kontakten, die ihnen nicht persönlich bekannt sind. In der Anonymität ist die Schwelle für Grenzverletzungen bis hin zum Mobbing bzw. zur sexuellen Belästigung gering.“ Teilweise werde durch Angabe von falschen Personalien die Identität verschleiert, in der Annahme, man könne so nicht ermittelt werden. Oft sei bei den Tätern ein Unrechtsbewusstsein gar nicht vorhanden. „Zudem könnte das gesteigerte Problembewusstsein hinsichtlich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die damit verbundene größere Sensibilität und Anzeigebereitschaft dazu geführt haben, dass Taten, die früher eventuell im Dunkelfeld verschwunden wären, nun sichtbar werden.“ so Kruger. Die Anzeigeerstattung der Sexualstraftaten erfolgt häufig durch das Opfer selbst, oft aber erst Jahre nach den eigentlichen Taten. „Die Motivation zur Anzeigeerstattung wird hierbei oft durch Angehörige bzw. nahestehende Personen sowie durch Opferberatungsstellen oder Therapeuten initiiert und bestärkt. Darüber hinaus treten häufig auch Personen aus dem sozialen Nahraum des Opfers, Bezugspersonen als Anzeigeerstatter auf“, betont Kruger.
Die Polizei beobachtet seit Jahren eine deutlich gesunkene Hemmschwelle beim Anzeigeverhalten, begrüßt diese Entwicklung und appelliert, jeden entsprechenden Vorfall zu melden. „Einflüsse wie die ‚Me too‘-Bewegung haben in der Öffentlichkeit allgemein zu einem ausgeprägteren Problembewusstsein hinsichtlich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und bei den Opfern zu einer größeren Sensibilität hinsichtlich sexueller Grenzüberschreitungen geführt“, so Kruger. „Auch Eltern sind sensibilisierter und erstatten Anzeige, wenn auf dem Handy der Kinder sogenannte Kinder- oder Jugendpornografie festgestellt wird oder ähnliche zweifelhafte Chatverläufe (beispielsweise in WhatsApp) vorhanden sind.“
Sexualstraftaten: Beratung und Betreuung bei der Polizei
Einfühlsam und opferorientiert geht die Polizei Schwaben Nord mit Sexualstraftaten um. Jeder vorgetragene Sachverhalt wird vorbehaltlos ernst genommen, und die notwendigen Ermittlungen zur Klärung des Tatgeschehens werden umgehend eingeleitet. Zentral ist dabei der Personenbeweis, daher wird die Aussage des Opfers in rücksichtsvollen Vernehmungen durch erfahrene Sachbearbeiter des Kriminalfachdezernats festgehalten.
„Zudem ist in jedem Verband eine ‚Beauftragte der Polizei für Kriminalitätsopfer‘ (BPfK) verortet, die in Fällen häuslicher und sexueller Gewalt eine polizeiliche Beratung und Betreuung anbietet“, erklärt Kruger und fährt fort: „In diesen Beratungen wird der Ablauf des Strafverfahrens erläutert und explizit aufgezeigt, welche Rechte und Möglichkeiten für das Opfer bestehen. Ferner wird hierbei bedarfsorientiert die mögliche Inanspruchnahme von Hilfsorganisationen (z.B. Fachstelle sexuelle Gewalt) erläutert und es erfolgt ggf. eine Unterstützung bei der Kontaktaufnahme mit diesen Stellen. Zudem werden Verhaltenshinweise aufgezeigt, um das Sicherheitsgefühl des Opfers zu erhöhen und die Gefahr zu minimieren, erneut Opfer einer Straftat zu werden.“
Die Statistiken zeigen, dass die meisten Taten im vertrauten sozialen Umfeld durch Partner, Bekannte oder Arbeitskollegen begangen werden. Für diese Delikte kann die Polizei keine speziellen Präventionsprogramme anbieten. Gezielte Präventionsstunden werden aber an Kindergärten, Grund- und weiterführenden Schulen angeboten, um bereits früh auf Gefahren wie Cybergrooming und Sextortion hinzuweisen. In Kooperation mit kriminalpolizeilichen Beratungsstellen, die konkrete Handlungsempfehlungen und Sicherheitshinweise geben, wird besonders Eltern geraten, den Kontakt zu ihren Kindern zu pflegen, Warnzeichen im digitalen Umfeld zu erkennen und bei verdächtigen Aktivitäten sofort zu handeln. (Weitere Infos unter www.polizei-beratung.de)
Leichter Rückgang bei der Gesamtkriminalität
Dennoch betont Polizeipräsident Martin Wilhelm, dass die Sicherheitslage in Nordschwaben nach wie vor insgesamt sehr gut ist und belegt das mit der Kriminalstatistik 2024. So wurden 39.846 Fälle registriert und das sind 261 (0,7 Prozent) weniger als im Vorjahr. Im 10-Jahres-Vergleich ist das ein deutlicher Rückgang um 13,9 Prozent.
Die bereinigten Straftaten, ohne ausländerrechtliche Verstöße, nahmen jedoch leicht um 2,7 Prozent auf 38.483 Fälle zu (2023: 37.481). Verantwortlich für diesen Anstieg sind vor allem mehr Fälle von Diebstahl (+554), Vermögens- und Fälschungsdelikten (+409), Sexualstraftaten (+276) sowie Straßenkriminalität (+265).
Deutliche Rückgänge wurden hingegen bei Rauschgiftdelikten (–822), Ladendiebstählen (–145) und Gewaltkriminalität (–123) verzeichnet. Auch bei Straftaten gegen das Leben wurden weniger Fälle registriert (–27).
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